von Róża Światczyńska
In Krzyżowa, diesem symbolträchtigen, von der polnisch-deutschen Geschichte geprägten Ort, beginnt ein zweites Jahrzehnt mit einer zusätzlichen, neuen Identität. Auf dem ehemaligen Gut der Familie von Moltke, einst Zentrum des antinazistischen Kreisauer Kreises und Ort der historischen Versöhnungsmesse von 1989, pulsiert jetzt ein ganz neues Leben durch die Klänge von Beethoven, Schostakowitsch, Ravel und Weinberg.
Beim Festival Krzyżowa-Music „Musik für Europa“ beginnt eine weitere Etappe des Brückenschlags durch musikalischen Dialog. Diese schönste Form universeller Kommunikation ist in Krzyżowa auch eine interkulturelle Brücke – ein belebendes Forum des Austauschs von Gedanken und Emotionen – und sie ist inspiriert von den Idealen der Demokratie und des harmonischen Zusammenlebens.
Der Weg zu diesem kleinen Dorf im Herzen Niederschlesiens führt durch die malerischen Landschaften der Świdnica-Ebene. Von der nahegelegenen Stadt Świdnica erreicht man es in etwa einer Viertelstunde, vorbei an goldenen Lupinenfeldern und wenigen, verschlafenen Ortschaften. Jedoch nach dem Passieren des Tores des ehemaligen Gutshofs hat sich die Szenerie vollständig verändert: Vor unseren Augen entfaltet sich ein Komplex gepflegter Gebäude mit einem prächtigen klassizistischen Schloss, und aus den weit geöffneten Fenstern verbinden sich die Klänge vielfältiger Instrumente zu einem polyphonen Schmelztiegel von Klangfarben und musikalischen Sprachen, aufgeladen durch die frische Energie der Jugend. Es sind die Teilnehmer des Festivals Krzyżowa-Music, das 2024 stolz sein zehnjähriges Bestehen feierte.
Die für alle offenen Proben dauern zunächst bis zur Mittagszeit. Jeder kann daran teilnehmen und den Klängen von Quartetten und Quintetten lauschen, die für die Abendkonzerte vorbereitet werden. Nach dem Essen folgt eine kurze Entspannungsphase, gefüllt mit individuellem Üben, bevor es nachmittags zurück zum gemeinsamen Musizieren geht, häufig von Gelächter unterbrochen.
Interessanterweise sitzt hier keiner mit dem Smartphone dauerhaft herum, niemand „scrollt durch soziale Medien“, was unter jungen Menschen in der digitalen Welt doch so verbreitet ist. Nach den Nachmittagsproben spielen einige Fußball, andere breiten Yogamatten aus – wichtig ist ihnen das gemeinsame Verbringen der Zeit, das hier in ihrem eigenen Rhythmus fließt. Während des Sonnenuntergangs erwacht dann der Campus mit einem fröhlichem Stimmengewirr durch die Vorbereitungen für die Abendauftritte, und viele Krzyżowa-Teilnehmer freuen sich bereits auf das Lagerfeuer, bei dem sie bei Würstchen spielen und singen werden – denn gemeinsames Feiern ist ein ebenfalls wichtiger Bestandteil des Festivallebens.
Einen besonderen emotionalen Wert hat für mich der historische Spaziergang durch die reizvolle Umgebung, über der das „Berghaus“ thront. In diesem Haus auf einem etwas abgelegenen Hügel fanden die konspirativen Treffen des oppositionellen Kreisauer Kreises statt. Dort wurden Pläne für eine neue, demokratische Ordnung Deutschlands und ein vereintes Europa geschmiedet, ohne Hitler, ohne Kriege und ohne Totalitarismus. Dorothy von Hülsen, Nachfahrin der Familie von Moltke, erzählt diese Geschichte sichtlich bewegt. In der Hand hält sie einen Band bewegender Briefe, die Helmuth James von Moltke aus der Todeszelle an seine Frau Freya schrieb. Der Gutsherr, einer der Köpfe dieser Verschwörung, wurde im Januar 1945 von den Nazis hingerichtet.
Alles, was ich von Freunden über den außergewöhnlichen ‚genius loci‘ und die einzigartige Atmosphäre von Krzyżowa gehört habe, erweist sich als authentisch. Ein partnerschaftlicher Geist ist durchgehend präsent, und angesichts der Musik haben alle den gleichen Status. Es gibt hier keine Stars, keine Nebendarsteller. An den Pulten treffen sich sogenannte „Juniors“ und „Seniors“ oder aufmerksam anleitende „Mentors“, die gemeinsam ihre Interpretationen erarbeiten. Und obwohl in der Kammermusik die Hierarchie der Stimmen wichtig ist, steht der partnerschaftliche Dialog, geführt nach demokratischen Grundsätzen, im Vordergrund.
Der gemeinschaftliche Geist durchdringt sowohl das kammermusikalische Musizieren als auch die tägliche Arbeit in den Büros unter der Leitung von Dr. Matthias von Hülsen, dem Generaldirektor und Mitbegründer des Festivals, der mit unverminderter Begeisterung die jährlichen Veranstaltungen organisiert.
Die Ergebnisse dieser Arbeit sind bei Konzerten in Krzyżowa sowie in mehreren nahegelegenen Orten zu hören, die mit historisch attraktiven Spielstätten aufwarten. Obwohl das Programm recht anspruchsvoll ist, hört das Publikum sowohl im historischen Theater in Szczawno-Zdrój als auch in der monumentalen Friedenskirche in Jawor die aufgeführten Werke in absoluter Konzentration zu. Das Repertoire, zusammengestellt von Viviane Hagner, der künstlerischen Leiterin des Festivals, ist äußerst vielfältig. Neben kanonischen Musikwerken enthält es auch kammermusikalische Raritäten, die man im Konzertalltag nur selten zu hören bekommt.
Ein wichtiger Programmschwerpunkt ist auch die polnische Musik, die sich ganz natürlich in die Idee von Krzyżowa einfügt, so wie sie auch in der europäischen Musiklandschaft immer präsenter wird. Während des Eröffnungskonzerts der Herbsttournee 2024 von Krzyżowa-Music, das vom Radiosender Dwójka aus dem Königsschloss in Warschau übertragen wurde, wurden Werke von Chopin und Lutosławski neben Kompositionen von Schubert, Bedřich Smetana und César Franck aufgeführt. Aber das ist nur ein Ausschnitt der polnischen Präsenz beim Festival. In den letzten zehn Jahren wurden in Krzyżowa auch Kompositionen von Karol Szymanowski, Grażyna Bacewicz, Krzysztof Penderecki und Andrzej Panufnik sowie von Mieczysław Weinberg und Władysław Szpilman aufgeführt, dessen Frau und Sohn an einem der Festivalsymposien teilnahmen.
Der intellektuelle Diskurs und der Austausch von Gedanken sind ein wesentlicher Aspekt jeder Festivalausgabe. Eine Reihe von Podiumsdiskussionen, moderiert von dem hervorragenden Cellisten Alexey Stadler, verbindet humanistische Reflexion mit aktuellen Problemen der Gegenwart. Wie bei dem für mich denkwürdigen Treffen mit Evgeny Kissin, einem kompromisslosen Künstler, der offen die russische Aggression gegen die Ukraine kritisiert, oder mit Jessica Duchen, einer herausragenden britischen Schriftstellerin und Publizistin, die die negativen Auswirkungen des Brexits auf die Musikszene diskutierte.
Auch die diesjährige Ausgabe des Festivals verspricht erneut spannend zu werden und viele Überraschungen zu bringen. Das Programm ruht auf mehreren thematischen Säulen, die an Komponisten erinnern, deren runde Jubiläen die Musikwelt in diesem Jahr feiert. Im Mittelpunkt stehen der 150. Geburtstag von Maurice Ravel und der 50. Todestag von Dmitri Schostakowitsch – zwei große Künstler, die im Schatten von Kriegen und aufkeimenden Totalitarismen wirkten. Im Jahr des 80. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs werden die Haltungen von Komponisten gegen-
über totalitärer Unterdrückung im Festivalprogramm reflektiert. Umso mehr, als die von ihnen geschaffene Musik auf vielfältige Weise das Grauen und die Unruhe der Epoche ausdrückte, die existenziellen Ängste der Komponisten widerspiegelte und oft ihre persönlichen Dramen offenbarte.
Für Maurice Ravel war der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein Wendepunkt, der seine spätere Arbeit prägte. Der Komponist, der sich als Fahrer eines Militärlastwagens an die
Front begab, vermied jedoch direkte Bezüge zur Realität in seiner Musik. Er bevorzugte stilistische Masken, die ihm halfen, Distanz zur Außenwelt zu wahren. Die Verarbeitung des Kriegstraumas fand er in der Rückkehr zu traditionellen Formen, wie in der den gefallenen Freunden gewidmeten Suite „Le Tombeau de Couperin“ oder im Poem „La Valse“, in dem manche ein Bild der Zerstörung des damaligen Europas sehen. Ein Spiegelbild seines Gemütszustands zu Beginn des Krieges ist das im Festivalprogramm enthaltene Klaviertrio von 1914 – ein Werk durchdrungen von subtiler Melancholie und Nostalgie, sowie einem ständigen Wechselspiel zwischen Idylle und emotionaler Spannung.
Am entgegengesetzten Pol steht das Schaffen von Dmitri Schostakowitsch, einem Komponisten, der gezwungen war, im Schatten des Krieges, des stalinistischen Terrors und des kommunistischen Regimes zu leben. In seinem Bemühen, seine künstlerische Identität zu bewahren, wurde er zum tragischen Opfer eines repressiven Systems. Beginnend mit der vernichtenden Kritik an seiner avantgardistischen Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ von 1934 und den zunehmenden Vorwürfen des Formalismus, wurde Schostakowitsch zu demütigenden Zugeständnissen an die Macht gezwungen, der er sich innerlich widersetzte. Diese Ambivalenz spiegelt sich in seinem Werk wider, das einerseits den Anforderungen der sozialistischen Doktrin entsprach, andererseits unter dem Deckmantel von Ironie und Groteske das Grauen seiner Zeit und den Widerstand gegen die Realität verbarg. Ihre Tragik zeigt sich unter anderem in Schostakowitschs Kammermusik: dem Klaviertrio von 1944, dem nach dem Krieg entstandenen Klavierquintett und dem achten Streichquartett sowie im während des Festivals aufgeführten neunten Quartett oder der emotional intensiven Romanzen-Suite nach Gedichten von Alexander Blok aus dem Jahr 1967.
Das Drama des Zweiten Weltkriegs und die Tragödie der Opfer des Nationalsozialismus kann man in Krzyżowa auch in den Werken von Hans Krása und Dick Kattenburg entdecken, äußerst talentierten Komponisten jüdischer Herkunft, die 1944 in Auschwitz ermordet wurden. Zu den Überlebenden des Holocaust zählen Paul Hindemith und Erich Wolfgang Korngold, die dank ihrer Emigration über den Atlantik ihre Komponistenkarrieren erfolgreich fortsetzen konnten. Ihre Vorkriegskompositionen finden sich in diesem Jahr ebenfalls auf den Festivalpulten und erinnern an das Trauma, das für viele Künstler die Entscheidung bedeutete, die Heimat zu verlassen, um woanders künstlerische Anerkennung neu zu erlangen.
Dieses sind zwar die Hauptthemen des diesjährigen Festivals, doch man sollte auch die Musik von Krzysztof Penderecki nicht vergessen, der vor fünf Jahren gestorben ist. Ein
Komponist, dessen Werk – allen voran die Lukas-Passion und das über viele Jahre hinweg entstandene, monumentale Polnische Requiem – lebhaft auf die historischen Umbrüche des 20. und 21. Jahrhunderts reagierte. Penderecki selbst fand, zunächst in der Avantgarde und später in der Spiritualität, die Kraft zum Widerstand gegen die unterdrückende Realität. Ein Ausdruck seiner Hinwendung zu universellen Werten war für ihn stets die Kammermusik – exemplarisch steht dafür das im Festivalprogramm enthaltene Sextett von 2000 sowie das etwas frühere Klarinettenquartett.
Die polnische Musik wird beim diesjährigen Festival außerdem durch Werke von Mieczysław Karłowicz, Karol Szymanowski, Grażyna Bacewicz und Witold Lutosławski vertreten. Beim Hören der Partita für Violine von Bacewicz aus dem Jahr 1955 oder des drei Jahre zuvor entstandenen Zyklus „Bukoliki“ von Lutosławski sollte man den Mut würdigen, mit der diese herausragenden Komponisten ihre künstlerische Unabhängigkeit zu bewahren suchten – entgegen dem Druck des Sozialistischen Realismus und den politischen Vorgaben in der polnischen Musikszene der 1950er Jahre. Dieser Kampf um moralische Integrität und künstlerische Identität in Zeiten der Unterdrückung und der politischen Bevormundung, das ist ein Thema, das in Krzyżowa mit besonderer Kraft weiterverfolgt werden sollte.
Róża Światczyńska
ist Journalistin und Rundfunkredakteurin
des Polnischer Rundfunks, Dwójka 2

